Draußen bricht die Sonne durch, während
auf dem Kamin der Espresso leise vor sich hin brodelt. Sanft trägt
der Wind den Gesang einer Glocke von irgendwoher nach irgendwohin.
Ein Spinnennetz umgibt sich mit morgendlichem Tau. Sonnenstrahlen
spielen mit den kleinen Wasserperlchen auf dem Netz und lassen
sie in den Farben des Regenbogens schimmern. Altweibersommer:
Benedikt Grün lauscht einer Melodie, die sich von draußen
zu ihm in die Hütte singt. Gregorianische Choräle aus
der Ferne. Grün hat sich in seine Hütte im Soonwald
zurückgezogen, um hier draußen in Einklang mit der
Natur zu kommen – verbunden mit der Hoffnung dem Wald eine
Melodie zu entlocken, die seinen Alltag erträglicher machen
soll.
Hier draußen, eingebunden in die Kulisse des Waldes, spüre
ich eine Nähe zu mir selbst, die ich so in den Wirren dieser
Welt nicht empfinde, nicht empfinden kann. In der Einsamkeit suche
ich nach Kraft und Heilung. Wer bin ich eigentlich? Mein Name
ist Benedikt Grün. Das ist aber auch schon alles, was es
im Augenblick über mich zu sagen gibt. Außerdem: Was
für einen Grund sollte es geben, zu wissen, wer ich bin?
Wer ist dieser Mann, der in der Abgeschiedenheit etwas sucht,
von dem er noch nicht einmal weiß, was er sucht?
Ich bin ein schreiendes Kind, das wahrgenommen werden will.
Ich bin Schriftsteller, das wollte ich immer schon werden. Nicht
etwa, weil es mir wichtig war, gelesen zu werden, sondern ich
wollte Schriftsteller werden, um gehört zu werden. Das ewig
und ewig schreiende Kind in diesem Grün will gehört,
will wahrgenommen werden, weil es in seiner Kindheit nicht wahrgenommen
wurde.
Er beschloss Schriftsteller zu werden, als er
zum ersten Mal Mark Twain las. Dieser Huckleberry Finn hatte sehr
viel Ähnlichkeit mit ihm. Ein Ausgestoßener, wie er.
Einer, der immer draußen lebte, wie er. Einer, der sich
alles nehmen musste, wie er. Einer, der immer alleine war; aber
auch einer, der immer alleine sein wollte. Huck war Benedikt und
Benedikt wollte so schreiben wie eben jener Mark Twain. Alle sollten
erfahren – alle sollten sie es erfahren – wie er seine
Kindheit verbrachte, verbringen musste. Damals, er war vielleicht
zwölf Jahre alt, als er diesen Wunsch hatte, diesen Traum
träumte „Schriftsteller“ zu werden, da ahnte
er nicht, dass dieser Traum in Erfüllung gehen könnte;
denn in seiner Familie gab es niemanden, der ihm auch nur die
geringste Chance gegeben hätte. Er sollte ein Versager werden.
Benedikt Grün wurde in eine Familie hineingeboren, in der
er nicht hineingeboren werden wollte. Er war immer ein Fremder
in dieser gespielten Familie; und er spielte mit, solange bis
er gelernt hatte, vor ihr wegzulaufen.
Benedikt lernte wegzulaufen, sowie es sein Vater auch vor ihm
getan hatte. Ja, das war es, was er von seinem Vater lernte, das
Weglaufen. Weglaufen. Einfach weglaufen. Weglaufen vor Problemen
aller Art. Weglaufen vor seiner Mutter, Weglaufen vor seinen Brüdern,
seiner Schwester, seinen Freunden, seinen Partnerinnen. Weglaufen
immer nur Weglaufen. Manchmal lief er auch nur um des Weglaufen
willens weg. Alleine der Gedanke, dieser flüchtige Gedanke,
der sich zu einem Fluchtgedanken entwickelte, genügte schon,
um ihn in Bewegung zu bringen.
Der Morgennebel steigt langsam auf, vereinigt
sich in der Höhe der Baumspitzen mit dem Blau des Himmels.
Er geht zum Kamin, wirft ein Stück Buchenholz auf die Glut,
setzt sich wieder in seinen Sessel und wartet darauf, dass sich
das Holz entzündet. Benedikt hat sich in eine Melodie hineingeträumt.
Die Kulisse des morgendlichen Waldes, das sanfte Knacken des Holzes,
von draußen immer wieder ein Geräusch, das er nicht
definieren kann. Vielleicht ein Wildschwein, das sich an den Äpfeln
zu schaffen macht, oder ist es nicht doch eine Elster?
Wieder träumt er von dieser Melodie. Einer Melodie, die nicht
nur aus Klang besteht. Nein, seine Melodie kann er sehen, riechen,
schmecken, anfassen, fühlen. Die vergangenen trostlosen,
dunklen Stunden, Tage, Wochen haben ihren Schrecken längst
verloren. Die Dunkelheit stürzt sich in die Fluten des Lichts
und Benedikt lässt sich fallen, einfach nur fallen: in sein
Leben, in seine Liebe, in seine Träume.
Seit einigen Tagen träume ich wieder; besser gesagt, ich
kann mich beim Aufwachen an meine Träume erinnern. Jetzt,
da ich die Inhalte meiner nächtlichen Erlebnisse kenne, wünsche
ich mich in die Traumlosigkeit zurück; wenigstens nachts
will ich meine Ruhe haben.
Die Versuche aus der Unerträglichkeit meines Wachlebens in
eine vielleicht angenehmere Traumwelt zu flüchten, ist an
der Grausamkeit des Geträumten gescheitert. Eine bittere
Erkenntnis. Es gibt also kein Flüchten in die Welt der Träume.
Das Unterbewusstsein lässt sich nicht manipulieren. Warum
kehren sie immer und immer wieder zurück, diese Weiber, diese
Leichen, die ich bereits vor vielen vielen Jahren irgendwo an
einem geheimen Ort meines Unterbewussten verscharrt habe? Und
weshalb träume ich immer wieder von diesem alten Fachwerkhaus.
Bin das vielleicht ich, habe ich morsche Knochen, bin ich marode,
kollabiere ich?
Einige dieser Träume machen mir Angst und verfolgen mich.
Dabei sind es nicht die Monster oder diese madigen Frauen, die
mir im Traum begegnen. Es sind die Lichtträume, die mir Angst
machen. Diese mit unendlichem Licht und unbeschreiblicher Wärme
gefüllten, ja ausgefüllten Träume. Immer wieder
lassen sie mich mitten in der Nacht schweißgebadet aufwachen,
aufschrecken.
Den ersten Traum dieser Art hatte ich, als ich einige Tage in
der Abtei St. Hildegard in Eibingen verbrachte. Ich hatte mich
in das Kloster zurückgezogen, um mein inneres Gleichgewicht
zu finden. Bereits in der ersten Nacht hatte ich einen solchen
Lichttraum.
Im Schlaf spürte ich, wie meine Füße warm wurden.
Diese Wärme stieg hoch und verbreitete sich in meinem ganzen
Körper; dann kam der Hauch eines Lichtes an meinen Fußzehen
hoch, während mein Körper immer wärmer wurde. In
einer ungeheuren Geschwindigkeit raste diese unbekannte Wärme
durch mich hindurch, während von weitem ein Licht in meinen
Kopf eindrang und mich ausfüllte, erfüllte, vereinnahmte.
Ein nie vorher da gewesenes, nie gesehenes, unglaubliches Licht
breitete sich mit einer ebenso atemberaubenden Geschwindigkeit
unter meiner Schädeldecke aus. Jede einzelne Zelle dieser
Millionen, ja Milliarden Zellen wurde durchleuchtet, war durchflutet
von und mit Licht. Ein Leuchten, ein Beleuchten, ein Erleuchten,
das mein Inneres reinigte, meine Seele von den dunklen Flecken
befreite. Es gab keinen noch so verborgenen Winkel meines Körpers,
meines Geistes und meiner Seele, der nicht durchflutet war –
von Licht, von Licht und Licht.
Leise, ganz leise aus weiter Entfernung, hörte ich den Hauch
einer Melodie, etwa eines Gesanges? Schreiend erwachte ich.
Traumtagebuch 23.September 1997
In der vergangenen Nacht habe ich sehr unzusammenhängende
Träume gehabt. Die meisten davon habe ich bereits vergessen.
Zwei davon sind mir allerdings noch fragmentarisch in Erinnerung
geblieben.
Ich war in einer Kneipe, irgendwo in Frankreich. Dort begegnete
mir eine junge Frau. Sie war sehr schön: blonde Haare, blaue
Augen, schlanke Figur. Sie will mit mir schlafen. Wir lieben uns
in aller Öffentlichkeit.
In dem anderen Traum befinde ich mich in der Abtei Himmerod. Dort
begegnet mir eine Gruppe von jungen Holländern, sie wollen
mich in der Abteikirche zum König von Holland krönen.
Ich versuche ihnen zu erklären, dass ich weder adelig bin,
noch die Absicht habe, König von Holland zu werden. Aber
sie lassen sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen.
Schließlich lasse ich mich zum König krönen. Die
Zeremonie erkläre ich zu meinem persönlichen Happening.
Ich will weg, einfach weg – ich ertrage
den Druck dieser dekadenten Zivilisation nicht mehr. Alles Hightech,
alles Superlativ, alles ist größer, besser, schneller.
Die Kälte unter den Menschen nimmt mir die Luft zum Atmen.
Je weiter sich unsere Technologie in Richtung Fortschritt entwickelt
(verwickelt), umso mehr entfernen wir uns von unseren Urinstinkten,
Gefühlen und Träumen. Oftmals erwecken die Menschen
in diesem Land, das sich „Deutschland“ nennt, in mir
den Eindruck, sie seien Schlafwandler. Vielleicht bin ich ja nur
noch einer der wenigen, die noch im Wachzustand sind. Doch dieser
Wachzustand ist nur durch meine Tagträume auszuhalten. Mit
meinen Tagträumen träume ich mich in eine bessere Welt
hinein. Während um mich herum die Menschen frieren, fühlt
es sich in mir ganz warm an.
Aber es ist nicht nur die äußere Kälte, eine Gefühlskälte,
die mir zu schaffen macht, mehr noch leide ich unter dieser latenten
inneren Gefühlskälte des Homo sapiens. Eingefrorene
Gefühle stehen auf der Tagesordnung, eingefrorene Gefühle
sind modern, eingefrorene Gefühle sind cool. Geld und Materie
bestimmen unseren Alltag, unser Denken, unser Handeln, unser Fühlen.
Der Morgennebel hat sich jetzt ganz verzogen,
wärmend fallen die ersten Sonnenstrahlen in die Hütte.
Das Feuer im Kamin ist zurückgegangen, ein wenig Glut bedeckt
noch den Boden. Mit einem Stück Holz versucht er die Glut
in Bewegung zu bringen. Benedikt öffnet zum ersten Mal an
diesem Morgen die Tür, um etwas frische Luft für ihn
und das Feuer hereinzulassen. Mit einem tiefen Zug atmet er die
unberührte Morgenluft in sich ein, um sie mit einem lauten
Schrei wieder aus seinen Lungen herauszupressen.
Sein Blick fällt auf den kahlen Kirschbaum, der noch im vergangenen
Jahr Früchte getragen hatte; und jetzt dieses Gerippe, diese
blattlose Skulptur eines Baumes, der bereits im Sterben seine
Arme in den Himmel streckt, um am Leben im Diesseits teilzunehmen.
Lebt er noch, ist er bereits tot? Wer fällt diesen Baum,
damit im Winter genügend Holz gegen die Kälte da ist?
Leben und leben lassen.
Ein paar hundert Meter weiter, etwas abseits des Weges ist eine
Quelle, an der sich Benedikt mit dem frischen, eiskalten Wasser
sein Gesicht kühlt. Für ihn ist der Gang zu dieser Quelle
schon zu einem Ritual geworden, es spielt keine Rolle, ob es regnet,
die Sonne scheint oder Schnee den Waldboden bedeckt. Das frische
Quellwasser ist bereits zu einem Bestandteil seines Lebens geworden.
Hier im Wald, in der Hütte, an der Quelle, da darf er sein,
da gibt es niemanden, der ihm diesen Platz streitig machen könnte
– oder gar dürfte.
In seiner Familie war einfach kein Platz, um in ihr einen Schriftsteller
aufwachsen zu lassen. Die Erwachsenen in seiner Umgebung waren
zu sehr damit beschäftigt, ihr eigenes Ego zu pflegen. Aber
vielleicht war ja gerade dieses Klima dazu geeignet, aus ihm einen
Künstler werden zu lassen? Sein innerer Drang von aller Welt
wahrgenommen zu werden, sein tiefer Wunsch aus seinem familiären
Elend auszubrechen war vielleicht der ideale Nährboden für
das, was er später wurde?
Da war niemand, der ihm eine Chance gab. Sein Leben begann mit
einem Schrei, das unterscheidet ihn nicht von den anderen Menschen.
Benedikts Schrei hörte auch in späteren Jahren nicht
auf: der Schrei der Einsamen, der Ausgestoßenen, der Heimatlosen.
Bereits bei seiner Geburt war es nicht der Schrei eines neugeborenen
Menschen, sondern der Schrei eines menschlichen Wesens aus Fleisch
und Blut, das nicht wusste, wo es hingehörte. Er schrie und
schrie, während sie ihn aus dem Bauch seiner Mutter Maria
zogen. Benedikt schrie so laut und so tief, dass sein Vater weglief,
einfach weglief. Der Schrei seines neugeborenen Sohnes muss ihn
so beeindruckt, ja erschreckt haben, dass Benedikt seinen Vater
auch in späteren Jahren nur noch spärlich zu Gesicht
bekam; dennoch machte Grün seinen Vater in dessen Abwesenheit
zu seinem großen unerreichbaren Vorbild. Vorbild im Kontakt
mit Frauen, Geld und schnellen Autos.
Trotz seiner ewigen Fluchten war Benedikt nicht in der Lage, sich
von der Stelle, sich innerlich von der Stelle zu bewegen. Seine
äußere Mobilität glich einer inneren Bewegungslosigkeit.
Bewegung war ekelhaft. Benedikt Grün wollte sich nicht bewegen.
Bewegung war mit Kälte, mit Ungemütlichkeit - Erwachen
- verbunden. Er wollte nicht aus seinem Elend erwachen. Es genügte
ihm schon, da stehen oder liegen zu bleiben, wo er sich gerade
befand; denn Bewegung bedeutete Veränderung und Veränderung
hatte etwas mit neuen und vor allem unbekannten Dingen zu tun:
In ihm klang dieser schrille Ton der Bewegungslosigkeit. Seine
Gedanken zeigten ihm nur, was nicht funktionierte. Aus diesem
Grund bevorzugte er das Nichtfunktionieren.
Benedikt wollte behalten, was andere wegwarfen, weil er wusste,
was es war und vor allem: wie es war.
Er kam schreiend in eine Welt, weil er in ein Leben hineingeboren
wurde, das er so, wie es vor ihm lag, gar nicht haben wollte.
Hineingeboren in ein Loch roher und zügelloser Gewalt. Dabei
wurde an ihm keine physische Gewalt ausgeübt. Die Form von
Gewalt, die man an ihm ausübte, war viel subtiler, viel latenter.
Sie übten psychische Gewalt auf ihn aus. Er sollte emotional
verhungern. Bereits am ersten Tag seiner Geburt stießen
sie ihn aus, seine Mutter und die beiden Stiefbrüder. Weshalb
hatte sich seine Seele ausgerechnet diese Mutter, diesen Vater,
diese Familie ausgesucht. Benedikt weiß keine Antwort darauf,
jedenfalls nicht in diesem Augenblick. Aber, er kannte ja auch
kein anderes Leben. Daher auch seine Angst, dieses Leben aufzugeben.
Er wollte nicht aufgeben, was er hatte, weil er wusste, was er
hatte. Ihm machte das Neue, das Unbekannte Angst.
Aber Grün wäre eben nicht jener Grün, wenn nicht
auch ein Funken Abenteuer, ein Hauch von ungestillter Lebensfreude
in ihm stecken würde. Im Grunde genommen ist er ein lebenslustiger,
lebensfreudiger Mensch. Seine Gene strotzen vor Lebensfreude.
Er liebt das Leben – er liebt sein Leben. Das Leben liebt
vermutlich auch ihn.