Rüdiger Heins unterrichtet
seit 1991 Creative Writing. In den Seminaren vermittelt er den
TeilnehmerInnen praktische Ansätze, wie aus einer Idee ein
realisierbares Manuskriptprojekt entstehen kann. Aus diesen Seminaren
sind im Laufe von zehn Jahren über zwanzig Publikationen
von SeminarteilnehmerInnen entstanden, die mit Verlag und ISBN
mit ihren Büchern in die Öffentlichkeit gelangt sind.
Rüdiger Heins unterrichtet im gesamten Bundesgebiet und auch
in der Schweiz. In Bad Kreuznach hat er 1997 das INKAS Institut
für Kreatives Schreiben (www.inkas-institut.de)
gegründet.
Einführung ins Creative
Writing
Kreatives Schreiben(1)
oder „Creative Writing“ ist eine Methode zum Erlernen
des literarischen Schreibens. Der Begriff Creative Writing, so
die wissenschaftliche Bezeichnung, wurde in den USA geformt. Dort
werden an den Hochschulen Schreibkurse in „Composition“
oder Creative Writing angeboten.
Nach Umfragen des Hochschuldidaktischen Zentrums der Alice Salomon
Fachhochschule für Sozialpädagogik und Sozialarbeit
in Berlin werden heute in Deutschland schätzungsweise 2000
Schreibwerkstätten an Volkshochschulen der Erwachsenenbildung
angeboten, in denen etwa 40 000 Menschen vorwiegend „autobiografisch
schreiben“ (HDZ-Info 1997: Heft 6). Autobiografisches Schreiben
(Kapitel 4) bezieht sich auf den Erfahrungs- und Erinnerungsfundus
der AutorInnen. Beim autobiografischen Schreiben werden individuelle
Ressourcen gezielt ausgeschöpft, um die AutorInnen methodisch
in eine Textkulisse einzuführen.
Was ist Creative Writing? Schreiben ist eine Kulturtechnik, die
zu einem wesentlichen Bestandteil unseres Alltages geworden ist.
Wir schreiben am Arbeitsplatz, in der Schule, füllen Formulare
aus, schreiben Einkaufszettel und Liebesbriefe, notieren uns die
Autonummer eines Verkehrssünders, wir schreiben am Computer,
wir schreiben mit der Hand, wir schreiben mit einer mechanischen
Schreibmaschine, wir schreiben mit einer elektrischen Schreibmaschine,
mit einem Kugelschreiber, einem Bleistift, mit Kreide, mit Kohle.
Wir schreiben mit unserem Finger eine Nachricht in den Sand. Schreiben.
Schreiben. Schreiben.
Was soll also kreativ am Schreiben sein? Eine Antwort gibt uns
Barbara Schulte-Steinicke:
„Kreativ daran ist alles,
was über das rein handwerkliche Moment des Schreibens hinausgeht,
aber auch über rein formales Tun, wie zum Beispiel das
Ausfüllen von Formularen. Letzteres ist mit Sicherheit
eine Art des Schreibens, aber ebenso sicher nur höchst
selten kreativ“ (Schulte-Steinicke
1997: 42).
Barbara Schulte-Steinicke, die auch Gast Professorin
an der Alice Salomon Fachhochschule ist, grenzt den Begriff des
Creative Writing wie folgt ein:
- · Das Erstellen von Texten, die originell
und individuell sind, dabei kann es sich um das Schreiben von
Literatur, aber auch um das Schreiben von Briefen handeln.
- · Das Nutzen von Schreibtechniken,
welche die Kreativität im Schreiben, aber auch durchaus
in anderen Bereichen stärken.
- · Der Ausdruck „Kreatives Schreiben“
erhält seinen Bedeutungsgehalt aus der Überzeugung:
Das Schreiben guter Texte ist auf kreative Weise lernbar. (Schulte-Steinicke
1997: 42).
Lutz von Werder, ebenfalls Professor an der Alice
Salomon Fachhochschule in Berlin, vertritt die Auffassung, dass
Creative Writing eine Form des Schreibens ist, die für die
Entfaltung des Einzelnen neue Ausdrucksmöglichkeiten entstehen
lässt (von Werder 1993: 23).
Creative Writing ist ein Instrumentarium, das auf die Kulturtechnik
des Schreibens zurückgreift. Mit methodischen Übungen
versucht das Creative Writing die kreativen Ressourcen des Einzelnen
zu entdecken, um sie im „Schreibprozess“ mit Hilfe
des geschriebenen Textes zum Ausdruck zu bringen. Also ein gestalterischer
Prozess, der in den beiden Hemisphären des Gehirns eine Interaktion
von Ratio und Emotion auslöst. Diese Interaktion bringt einen
kreativen Vorgang in Bewegung. Ob dieses, durch eine kreative
Interaktion angeregte, „geschriebene Wort“ tatsächlich
literarischen Qualitätsstandards entspricht, beantwortet
das Creative Writing nicht.
Die moderne Kreativitätsforschung beschreibt den Kreativitätsprozess
als einen Akt, der für ein Individuum etwas Neues darstellt
oder im weiteren Sinne etwas Neues für einen Kulturkreis
oder die Menschheit bedeutet (vgl. U. Beer 1974: 9).
Creative Writing nennt sich das Schreiben, das dem Individuum
bei der Entfaltung neuer Ausdrucksmöglichkeiten und Kommunikationsformen
Wege zur Selbsterkenntnis eröffnet. Menschen, die sich schreibend
definieren, sind in der Lage ihren Individuationsprozess und den
des „ästhetischen Tuns“ zu aktivieren. Creative
Writing hat den Anspruch, durch die Aktivierung der Imagination
etwas Neues entstehen zu lassen. Es soll eine neue Sicht auf Bekanntes
realisiert werden (vgl. Spinner 1993: 21). Altes wird demzufolge
neu bewertet. Diese neue Bewertung entwickelt sich, nach Spinners
Auffassung, aus der Bedeutung „kreativ“ zu sein.
Das Creative Writing kann als ein ganzheitlicher Vorgang angesehen
werden, der Ausdruck eines elementaren Wunsches ist. Das Erfahrene
und Erlebte soll zu einer sprachlichen Form gestaltet werden.
Im Creative Writing werden alle Sinne einbezogen: Sehen, Hören,
Riechen, Schmecken, Fühlen. Unser Gehirn nimmt ständig
Eindrücke auf, speichert sie und gibt diese, wenn die Anreize
da sind, wieder nach außen. Die Anregung der Sinne, beispielsweise
durch Farben, Musik, Natureindrücke, Gerüche, Hautkontakte,
ist hierbei ein wesentlicher Auslöser für die Öffnung
unserer inneren Ausdrucksfähigkeit. So gesehen ist das Creative
Writing auch immer im Kontext einer kontinuierlichen Selbsterfahrung
zu verstehen, die schreibende Menschen bei ihren Aktionen begleitet.
In den USA haben die Methoden des Creative Writing eine lange
Tradition. Lutz von Werder datiert den Beginn in die 20er Jahre
des vergangenen Jahrhunderts. Dort begannen die Pioniere mit der
Organisation der ersten Schreibkurse an der University of Iowa.
ProfessorInnen fiel auf, dass StudentInnen, die über ein
fundiertes Fachwissen verfügten, Schwierigkeiten beim schriftlichen
Verfassen ihrer wissenschaftlichen Arbeiten hatten. Diesen vordergründigen
Störungen beim Schreiben eines Textes, die wir heute unter
dem Begriff „Schreibblockaden“(2)
kennen, versuchten die HochschullehrerInnen mit antiken Schreibspielen
entgegen zu wirken. Diese Schreibspiele sind unter anderem „Epigramme“
(pointierte lyrische Kleinform), die „Xenien“ (kurzes
Sinngedicht) oder die „Aphorismen“ (in sich geschlossener
Sinnspruch), die auch heute noch im Creative Writing angewendet
werden. Bei diesen Schreibmethoden wird versucht, mit wenigen
Worten eine essenzielle Aussage zu treffen.
Augenblicklich studieren etwa 7 000 Studenten und Studentinnen
in den USA Creative Writing. Insgesamt 418 Universitäten
erforschen das Creative Writing in den Wissenschaften. 16 Zeitschriften
publizieren über Schreibforschung. Jedes Jahr werden ungefähr
2 000 Aufsätze zum Thema veröffentlicht. In den USA
beschäftigen sich 1500 SchreibforscherInnen mit dem Schreiben
literarischer Texte auf der Grundlage des Creative Writing.
Ein Blick auf Deutschland wirkt ernüchternd:
„Es gibt weder eine etablierte
Schreibforschung noch ein Schreibcurricular. Es gibt keine Schreibberatungsstellen
an Schulen oder Hochschulen und es gibt nur wenige Schreibforscher“
(vgl. von Werder 1997: 14).
Dieses Zitat Lutz von Werders mag zwar 1997 in
dieser Radikalität seine Daseinsberechtigung gehabt haben,
dennoch haben in der Vergangenheit in der deutschen Schreibbewegung
positive Veränderungen statt gefunden (vergl. Kapitel 2).
In Deutschland ist die Creative-Writing-Bewegung erst in den siebziger
Jahren entstanden. Mit den Methoden des Creative Writing wurden
neue Formen der Literaturproduktion hervorgebracht. In Schreibwerkstätten,
Schreibkursen oder in Schreibseminaren konnten die Methoden als
literarisches Schreibinstrumentarium gelehrt und eingeübt
werden.
Die schnellen Erfolge für das Schreiben von Texten sind für
AnfängerInnen zunächst überraschend, denn die Qualität
der neu entstandenen Texte hebt sich zunächst deutlich von
älteren Textproduktionen ab. Dennoch kommt es immer wieder
vor, dass die, nennen wir sie „AutobiografInnen“,
die Kontrolle(3) über ihren
Schreibprozess verlieren und wieder in ihr ursprüngliches
Schreibmuster zurückfallen, weil sie (aus welchen Gründen
auch immer) nicht in einen Entwicklungsprozess eintreten, der
ihre individuelle „Kunst des Schreibens“ entfaltet.
Persönliche Seminarerfahrungen als Dozent
im Creative Writing mit Kindern in der Grundschule, aber auch
in der Erwachsenenbildung und der Arbeit mit den StudentInnen
an der Fachhochschule für Sozialwesen in Wiesbaden sollen
Grundlage meiner Untersuchungen sein.
Die bedeutendste Begegnung mit dem Creative Writing hatte ich
Mitte der 90er Jahre. Damals besuchte ich ein AutorInnenseminar,
das von der Schule für Dichtung(4)
in der Kunsthochschule im Frankfurter Städel veranstaltet
wurde. Die DozentInnen, Anne Waldmann (USA) und Ed Sanders (USA)
lehrten zu diesem Zeitpunkt als ProfessorInnen für Creative
Writing an der Jack Kerouac School, die der Naropa University
in Bolder / Colorado angeschlossen ist. Diese intensive Begegnung
mit dem Creative Writing bedeutete für mich einerseits eine
positive Erfahrung, andererseits aber war ich skeptisch: denn
ich konnte mir nicht vorstellen, mit diesen Methoden das Handwerkszeug
zu haben, um einen ganzen Roman zu schreiben.
Trotzdem beschäftigte ich mich von diesem Zeitpunkt an intensiver
als vorher mit dem Creative Writing.
Die Lektüre des „Lehrbuch für Kreatives Schreiben“
von Lutz von Werder, einem Standardwerk der deutschen Variante
des Creative Writing, brachte mich auf die Idee, selbst Schreibgruppen
anzubieten. Da ich in dieser Zeit noch freiberuflich als Autor
und Journalist publizierte, erschien mir die Möglichkeit,
Schreibseminare zu leiten, ein weiteres Standbein zur Erhaltung
meiner Selbstständigkeit. So kam es, dass ich innerhalb eines
kurzen Zeitraums Dozent in der Erwachsenenbildung wurde.
Meine Erfahrungen mit Menschen, die sich in der
Regel autobiografisch ausdrücken wollten, waren und sind
sehr unterschiedlich. Abgesehen von den bemerkenswerten Qualitätsunterschieden
der Texte der einzelnen AutobiografInnen, fiel mir auf, dass Menschen
mit der Form des Schreibens, des Kreativen Schreibens, eine Plattform
gefunden hatten, mit der sie von anderen wahrgenommen wurden.
Andy Warhol hat einmal gesagt:
„Jeder Mensch braucht einmal in seinem Leben einen Auftritt
von zehn Minuten in den Medien!“ Andy Warhol
Ich kann dieses Zitat nur bestätigen; denn im Verlauf meiner
Seminarleitererfahrung wurde mir klar, dass Schreiben eine psychosoziale
Komponente hat, die dem Individuum dabei hilft, Beachtung von
anderen zu bekommen – eben diese zehn Minuten Medienauftritt,
von denen Warhol gesprochen hat.
Was aber bedeutet diese Erkenntnis im Zusammenwirken der Methoden
des Creative Writing mit den Möglichkeiten sozialpädagogischen
Handelns? Ist es möglich, Creative Writing als sozialpädagogisches
Instrumentarium zu nutzen?
Kreatives Schreiben ist meiner Ansicht nach nicht unbedingt eine
Technik, die im 20. Jahrhundert in den USA entstanden ist. Ein
Blick auf die DaDa Bewegung im Europa der 20er Jahre zeigt uns,
dass auch hier bereits Formen des Creative Writing (die auch heute
noch gelehrt werden siehe Kapitel 3.1) praktiziert wurden, die
der aktuellen Form des Creative Writing in Nichts nachstehen.
Selbst die alten Griechen hatten Schreibspiele entwickelt, die
auch heute noch im Creative Writing benutzt werden. In diesem
Zusammenhang möchte ich auch auf die chinesische Han Shan
Dichtung (lyrische Prosa mit acht Zeilen) aufmerksam machen, die
wir in der japanischen Variante als Tanka- oder Haiku- Dichtung
kennen. Ein Tanka ist ein Gedicht mit fünf Zeilen, wobei
die einzelnen Zeilen in verschiedene Silbenfolgen (5 / 7 / 5 /
7 / 7) aufgeteilt sind. Das Haiku hat nur drei Zeilen (5 / 7 /
5) mit siebzehn Silben (das Kapitel 6.2. beschäftigt sich
intensiv mit der Haiku Dichtung). Die genannten Lyrik- oder Prosaformen
waren immer auch in einen gesellschaftlichen Kommunikations- und
Interaktionsprozess eingebunden, der sich schreibend artikulierte.
Kreatives Schreiben als eine Form der Interaktion menschlichen
Zusammenlebens - wir haben es hierbei mit einer lebendigen literarischen
Kommunikationsform zu tun, in der sich AutobiografInnnen in einen
interaktiven Prozess begeben, um Erfahrungen und Erkenntnisse
auszutauschen. In diesem Kommunikationsprozess besteht für
die AutorInnen die Möglichkeit, über ihre Texte und
eingebettet in eine Gruppendynamik, individuelle Entwicklungen
einzuleiten. Aus dieser Perspektive gesehen könnte das Creative
Writing auch als sozialpädagogischer Arbeitsansatz entwickelt
werden.
Welche Möglichkeiten es gibt, das Creative Writing in der
sozialpädagogischen Arbeit zu benutzen, versuche ich in den
folgenden Kapiteln herauszuarbeiten.
Doch zunächst möchte ich mich mit den bereits vorhandenen
Bildungsangeboten des Creative Writing in Deutschland beschäftigen.
(1) Da es sich bei dem Begriff
„Kreatives Schreiben“ um einen Eigennamen handelt,
verwende ich im Folgenden die Großschreibung.
(2) Emotionale Unsicherheit beim
Verfassen von schriftlichen Arbeiten.
(3) Der Kontrollverlust einer
AutobiografIn zeigt sich in einer emotional stark überlagerten
Textkulisse. Gottfried Benn hat einmal gesagt: „Kunst muss
kühl bleiben“. Die Kühle im Text ermöglicht
den RezipientInnen die Möglichkeit, ihre eigenen Emotionen
und Imaginationen in die Textkulisse einzuweben.
(4) Schule für Dichtung
in Wien.