Zurück

augenblick des glücks
die zeit hält den atem an
ein sohn kehrt zurück

 

Da oben am Himmel haben sich die Wildgänse bereits für ihren langen Flug in den Süden formiert. Sanft gleiten sie über eine herbstliche Landschaft, während ihr Rufen nach Abschied klingt. In den Weinbergen sind die Winzer schon dabei die letzten Trauben zu ernten.
Unten in dem Dorf unweit des Flusses, blickt ein Junge fasziniert in den Nebel. Er versucht herauszufinden was dieses seltsame Gebilde da oben, am anderen Ende der Straße, zu bedeuten hat. Als er sich aufmacht, diese unsichtbare Wand anzufassen, ist die Enttäuschung groß: da, wo vorher Nebel war, ist jetzt keiner mehr. Dafür liegt nun sein Elternhaus, von dem aus er aufgebrochen war, verborgen hinter einer unsichtbaren Wand. Die Luft ist gefüllt mit dem säuerlichen Duft des Herbstes, der nur wahrzunehmen ist, wenn sich das Laub an den Weinstöcken färbt und die Traubenleser mit ihrer Schere die saftige Frucht von der Rebe schneiden.
In der Küche spielt Großvater Mundharmonika. Es sind immer wieder dieselben Melodien, die er herausbringt, vielleicht ist das der Grund, weshalb er beim Spiel die Augen geschlossen hält. Benedikt zupft ihn leicht an seinem Arm:
„Was ist denn Benedikt, du siehst doch, dass ich gerade Mundharmonika spiele!“
„Aber Opa, ich wollte dich doch nur fragen, warum man den Nebel nicht berühren kann.“
„Den Nebel, nicht berühren? Und deshalb störst du mich beim Spiel?“
Großvater hat ihm diese Frage nie beantwortet. Dazu gab es auch keine Gelegenheit mehr: Wenige Tage später stand Benedikt an seinem Totenbett. Er legte eine Hand auf die Stelle, an der sein Herz klopfen sollte: Doch es klopfte nicht. Sanft strich er dem Leichnam über den dicken Bauch, der sich unter dem weißen Leinentuch empor wölbte, um die Wärme in seinen Fingerspitzen zu fühlen. Aber der Bauch des Großvaters war kalt und sein Gesicht hatte eine Blässe angenommen, die er so nicht kannte. Die Augen waren geschlossen. Irgendjemand im Totenzimmer sagte:
„Der Franz liegt da, als würde er schlafen ...“
„Er schläft aber nicht, er schläft aber nicht!“, schrie Benedikt in den Raum hinein. „Opa ist tot, er ist tot! Wer erklärt mir denn jetzt, warum man den Nebel nicht anfassen kann?“

Die Luft ist gefüllt mit dem Duft der abgebrannten Stoppelfelder. Am Grab seines Großvaters steht jetzt nicht mehr dieser kleine Junge, sondern der Mann Benedikt Grün – nach zehn Jahren in der Fremde wieder in sein Dorf zurückgekehrt. Grün, der ausgezogen war, den Nebel dieser Welt zu erkunden. Kurz nach dem Abitur verließ er die Stadt an der die Nahe in den Rhein fließt, ging nach Frankfurt, um dort „etwas“ zu studieren und fand sich plötzlich in der Rolle des Journalisten in einer Redaktion der Mainmetropole wieder.
„Als ich ging, wollte ich der Enge dieser katholischen Stadt den Rücken kehren. Damals hatte ich einfach genug von all den begrenzten Vorstellungen, wie mein Leben auszusehen hätte.“
Benedikt Grün war auf der Suche nach der Welt; und er war der festen Überzeugung, die Welt da draußen wartete nur auf ihn. Dennoch hatte er in all diesen Jahren nie seine Heimat vergessen. Es gab immer wieder Augenblicke, oftmals auch ohne einen Zusammenhang, in denen die Erinnerungen aus dem Dorf an der Nahe in ihm auftauchten.

Bei seiner Fahrt über den Rio Escondido beobachtete er einen alten Mann, der gerade dabei war, einen Sack, in dem ein Ferkel quietschte, mit einem Strick fest an die Reling zu binden. Aber das Schwein kam nicht zur Ruhe, das Seil löste sich und der Kaffeesack mit dem Ferkel verschwand in den sanften Wellen des Rio. Verzweifelt versuchte der Alte den Skipper zum Halten zu bewegen. Doch wegen eines Schweines würde der die Maschinen nicht zum Stoppen bringen.

Ein wenig erinnerte ihn der Alte auf der Barke an den „Hosenschorsch“ aus seinem Heimatdorf. Schorsch hatte die Angewohnheit bei fremden Leuten das Plumpsklo zu benutzen. So kam es, dass er eines Morgens das Klohäuschen an der Burgschänke aufsuchte. Zigarren rauchend (Hosenschorsch rauchte nur die Weißen Raben) verschwand er hinter der Holztür mit dem obligatorischen Herzchen, das direkt neben dem Misthaufen stand.
Auf der Straße vor der Burgschänke sind ein paar Frauen aus dem Dorf in ihr morgendliches Gespräch vertieft. Wo gibt es gerade die besten Kartoffeln, für wie viel Geld? Wer war der Fremde, der in den Morgenstunden das Haus der ledigen Kathrin verließ?
Von irgendwoher ist auch das Krähen eines Hahnes zu hören, Schweine quietschen. Ein Traktor fährt mit einem monotonen Dieselbrummen über das Kopfsteinpflaster. Dann kehrt wieder die Stille dieses Frühlingsmorgens zurück. Die Frauen rätseln jetzt darüber, was der Inhalt der Predigt am vergangenen Sonntag zu bedeuten hatte. Immer noch ist das Krähen des Hahnes zu hören, ein paar Hühner gackern leise vor sich hin; und dann dieser Knall. Dieser furchtbar laute Knall. Ein Schrei aus dem Klohäuschen, die Tür wird aufgerissen, Hosenschorsch kommt ohne Hose herausgerannt, seine Hosenträger, die ihm an der Seite herunterhängen, werden zur Falle, er stolpert. Die Frauen schweigen. Das Klohäuschen qualmt. Schorsch irgendwie auch. Er liegt bäuchlings auf dem Kopfsteinpflaster, während sein Hintern in den Himmel zeigt.
„Ei Schorsch, was iss dann bassiert?“
„Dunnerkeil, die hon de Klo met Kabit desinfiziert, un ich hon moi Ziga ne nin geschmiss!“
„Ach so ...“

Grün verlässt das Grab seines Großvaters, vorbei an Patrick, seinem Jugendfreund, der mit siebzehn überfahren wurde. „Hallo Patrick“. Direkt daneben liegt Arvil, auch ein Schulfreund, sein Grab haben sie bereits weggemacht, es sind nur noch die Konturen der Einfassung zu erkennen.
Am Grab der Georgefamilie die Erinnerung an den kleinen Jungen, der am Geburtshaus Stefans stand und davon träumte: „So wie du, will ich auch ...“ Zwei, die in diesem Dorf geboren wurden, um es zu verlassen, damit sie im Schutz der Fremde dichten konnten.
Grün ist zurückgekehrt. Er verließ die Weite der Welt, um hier in seinem Heimatdorf das zu finden, was er da draußen suchte. Die Jahre haben auch die Straßen des Dorfes verändert. Das Kopfsteinpflaster ist dem Anthrazit des Teers gewichen. Es sind auch keine Hühner mehr zu hören.

Ein paar Grasbüschel durchbrechen das Braun der Straße mit einem welken Grün. Ab und zu picken zerrupfte Hühner in dem staubigen Boden herum, in der Hoffnung etwas Essbares zu finden.
Die Straßen von Rama, der Bretterstadt am Rio Escondido, sind gar keine. Sie sind zusammengetragen aus dem Staub, den die Menschen, die hier in all den Jahren durchgezogen sind, zurückgelassen haben. Menschen gehen an diesem Morgen über wacklige Fußwege auf Pfählen. Links und rechts am Straßenrand liegen ausrangierte Bootwracks, auf denen Kinder mit nackten Oberkörpern spielen. Schweine in den Straßen; ein Wagenrad angelehnt an eine Hütte, das Klo im Hof. Ein Mädchen, das seine schwarzen Haare zu Zöpfen geflochten hat, kommt aus einer Hütte heraus, in der Hand einen Krug, den sie eine Straßenecke weiter an einem Brunnen mit Wasser füllt. Ein paar Meter davon entfernt rollt ein leerer Leiterwagen über die Straße.
Unten am Fluss, dem Rio Escondido, liegt bereits die Barke, die darauf wartet, Menschen, Hühner, Schweine, Säcke mit Mais und Bohnen und Kaffee und Reis den Fluss hinunter zu bringen.
Es regnet. Der Maschinist öffnet eine Klappe im Boden und springt in ein gusseisernes Loch; wenig später brüllen die Maschinen auf die Passagiere ein. Die Schiffsglocke ertönt, Leinen werden gelöst, die Barke fährt durch den Dschungel, um nach Bluefields, der Stadt am Atlantik, zu gelangen.
Links und rechts des Rio strecken gigantische Bäume ihre gigantischen Arme in den gigantischen Himmel. Die Kulisse der Landschaft besteht nur aus dem Grün der Bäume und dem Blau des Himmels. Auf dem Fluss schwimmen vereinzelt Baumstämme, denen der Skipper immer wieder ausweicht. Ab und zu tauchen in der Urwaldkulisse menschliche Siedlungen auf. Indianerkinder winken lachend zum Boot.
Als das Schiff bei Anbruch der Dunkelheit endlich in Bluefields anlegt, hat sich am Kai bereits eine Menschenmenge versammelt.
Sein Freund Rufino Omier Daniels, der Rama Indianer, wartete am Kai, um ihn abzuholen. Im Schein einer Gaslaterne erkannte er ihn sofort.

Hier in seinem Heimatdorf erwartete ihn niemand bei seiner Ankunft. Grün wollte auch nicht erwartet werden. Er hatte die Absicht, dem Dorf als Fremder zu begegnen. Niemand sollte ihn erkennen. Draußen, in der Fremde war er auch immer nur ein Fremder. Nirgends zu Hause. Immer einer, der ein Gast war, zugegeben, ein gern gesehener, aber doch nur eben ein Gast. Nun wollte er hier, wo seine Wurzeln waren auch ein Fremder sein, weil er sich an den Zustand des Fremdseins gewöhnt hatte. Es war ihm vertraut überall, da wo es ihn hinzog, ein Unbekannter zu sein. Fast könnte man sagen, Grün war nur in der Fremde wirklich zu Hause.
Jetzt war er einer, der nur ganz zufällig durch die Straßen dieses Dorfes ging. Jedenfalls war das das Bild, was er von sich zeigen wollte. Neugierig fielen seine Blicke auf dieses oder jenes Gebäude. Er war einer, der nach verborgenen Winkeln zwischen Häuserwänden suchte, um Erinnerungen an seine Kindheit zu finden. Aber es gab nichts zu finden. Grün entdeckte immer nur eine Ahnung davon, was er vielleicht gerne gefunden hätte.
Wohnte da in dieser kleinen Straße nicht der Rote Lui? Dieser wunderbare alte Mann, dem er nur ein einziges Mal in seinem Leben begegnet war? Wie er da saß, vor dem alten Rathaus, mit einer Tüte Haferflocken in der einen und einem Esslöffel in der anderen Hand. Dieser alte bärtige und zugleich unnahbare Mann, saß da, als würde die Zeit vor ihm Halt machen.
Ja, es kam ihm so vor, dass Lui mit seinem Freund Rufino Omier etwas Gemeinsames hatte. Die Würde, diese unnahbare Würde, die ihm bei der ersten Begegnung mit Rufino Omier auffiel, glich in ihrem Ausdruck der Würde dieses Roten Lui. Die Würde eines Menschen zeigt sich also nicht unbedingt in seinem materiellen Reichtum, sondern sie kommt besonders bei Menschen zum Ausdruck, die ihren Weg unbeirrt beschreiten.
Weshalb musste er, um diese Erkenntnis zu bekommen, so weit in der Welt umherirren? Lohnte es sich jetzt, da er wieder zurückgekehrt war, darüber nachzudenken? Nein, denn er wusste bereits von dem Augenblick an, als er den Anblick der Rochuskapelle vom Zug aus sah, dass er am Ziel seiner Reise angekommen war. Dieses wohlige Gefühl, dieser glückliche Augenblick endlich angekommen zu sein, erfüllte ihn mit einer unglaublichen Freude. In ihm klang die Melodie des Lebens. Das Ziel seiner langen Reise war erreicht. All die Mühen und Entbehrungen hatten sich für diese Erkenntnis gelohnt: Das Ziel einer jeden Reise ist die Rückkehr.

Grün bemerkte gar nicht, dass er das Dorf bereits hinter sich gelassen hatte. Er war jetzt auf dem Weg zur Nahe, dem Fluss, dem er den Rücken gekehrt hatte, um in der Ferne sein Glück zu finden. Er erkannte ihn wieder, diesen sanften Ton des fließenden Wassers, der ihm so vertraut war. Ganz ruhig und aufmerksam stand er jetzt am Ufer des Flusses, ließ seine Augen dem Spiel der Wellen folgen, um mit ihrem zarten Rauschen eins zu werden. Von ganz weit her hörte er eine Melodie, die ihn ganz leise entführte: in eine Welt, die ihm vertraut war, in die Welt seiner Kindheit. Er ließ sich ein; ließ sich ein in die Harmonie des Fließens, war ganz ergriffen von der Melodie des Flusses.
Es wurde bereits Abend und er saß immer noch am Ufer der Nahe, um zu lauschen. Einem Gesang, von dem er jetzt wusste, dass er ihn da draußen gesucht hatte.
Auf dem Weg zurück zum Dorf, wusste er nicht, wohin er jetzt gehen könnte. Grün wusste nur, dass er von hier nicht mehr fortgehen würde.

 

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