Flucht ins Nichts

 

Von dem Brotkanten, den ihm eine alte Bauersfrau über den Zaun des Lagers geworfen hatte, war bereits am zweiten Tag seiner Flucht nichts mehr übrig geblieben. Zuletzt suchte er in seiner Manteltasche die winzigen Krümel, die er sich in gewissen Abständen immer wieder in den Mund führte, um sie langsam auf der Zunge zergehen zu lassen. Das gab ihm das Gefühl, etwas essbares im Mund zu haben und nährte die Illusion nicht mehr hungrig zu sein. Den Durst löschte er mit einer handvoll Schnee. Bereits am dritten Tag seiner Flucht wusste er weder wo er war, noch wohin er gehen sollte.
Hans wollte nur noch weg, weit genug weg von diesem Lager, in das sie ihn eingesperrt hatten. Der Krieg war verloren, dass wusste Hans schon, bevor er eingezogen wurde. Er war siebzehn und hoffte, dass dieser Krieg schnell ein Ende haben würde, damit er wieder nach Hause konnte.
Sie wollten ihn noch mit seiner Kompanie, die sie in aller Eile in Koblenz zusammengestellt hatten, in den Russlandfeldzug schicken. Die Soldaten wussten, dass sie von dort nicht mehr zurückkehren würden. Ihr Zug, mit dem Mannschaftstransport nach Minsk, wurde bereits in Frankfurt an der Oder von den feindlichen Fliegern bombardiert. Die Lok war getroffen, der Kessel explodierte und die Waggons entgleisten. Mitten in einer endlosen Landschaft lagen die Trümmer des zerbombten Zuges. Rauch stieg zum Himmel. Es roch nach den verbrannten Kohlen des Heizofens und nach dem verbrannten Fleisch der schreienden Landser. Ihre Schreie glichen einer Todessymphonie, sie schien die Landschaft in ein bizarres Gebilde verwandelten. „So sieht also der Krieg aus“, dachte der Hans als er sich aus den Brocken aus Stahl und Dreck und Holz hervorarbeitete, die ihn umgaben.
Er wurde bei diesem Bombardement verwundet. Die Verletzung am Bein, das zwischen zwei schweren Munitionskisten eingequetscht war, und ihn kampfunfähig machte, brachte ihm sechs Wochen in einem Lazarett und eine Woche Heimaturlaub ein. Seine Mutter war froh, das wenigstens einer ihrer drei Söhne aus dem Krieg zurückkehrte. Ernst blieb in der Normandie und von Fritz, der zuletzt im Kessel von Stalingrad kämpfte, hatten sie schon lange nichts mehr gehört.
Hans wollte nach seinem Heimaturlaub nicht mehr in diesen „gottverdammten Krieg“ zurück. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich wieder auf den Weg zu machen.
„Mutter, bei der erst besten Gelegenheit, die sich ergibt, brenne ich denen durch,“ sagte er ihr zum Abschied. Umarmen konnten sie sich nicht. So blickten sie sich nur kurz in die Augen, reichten sich die Hände und nahmen Abschied.
Doch es gab keine Gelegenheit mehr für ihn durchzubrennen. Noch bevor er in Mainz den Bahnhof – oder das, was davon übriggeblieben war - zu Fuß, erreichen konnte, hörte er unterwegs, zwischen Gau Algesheim und Ingelheim die Leute rufen: „Der Krieg ist zu vorbei! Er ist aus und vorbei.“ Hans konnte das nicht glauben. Vor einigen Wochen noch wollten sie ihn noch nach Russland fahren und jetzt sollte alles vorbei sein?
Es war vorbei. Der Krieg war zu Ende. Hans war nicht allzu weit von seinem Heimatdorf entfernt. Zu Fuß wollte er zurück in sein Heimatdorf nach Dietersheim, um dort wieder sein normales Leben zu führen. Die Arbeit im Stall und auf dem Feld, das war das, was er wollte, was er konnte und es war die Arbeit, die ihn zufrieden machte.
Wie oft hatte er es sich in all diesen Jahren gewünscht, dass dieser Krieg ein Ende haben würde. Nun, da es soweit war, konnte er das Ende nicht wirklich fühlen. Das Ende des Krieges, von dem er schon so lange geträumt hatte.
„So fühlt sich also das Ende des Krieges an“, murmelte er vor sich hin. Das Ende fühlte sich nach Nichts an. Äußerlich gab es keine Veränderungen. Die zerbombten Häuser, Menschen auf der Flucht, immer wieder auch verstreute Landser. Verwundete Menschen auf den Straßen, die ziellos herum zu irren schienen. Leichen am Straßenrand, deren Verwesungsgeruch süßlich über der Trümmerlandschaft lag.
Die Amis kamen sehr schnell mit einer Ponton Brücke über den Rhein bei Bingen. Die Rheinbrücke wurde von einem Sprengkommando der Wehrmacht zerstört, um jeden Quadtratmeter deutschen Bodens bis zum Letzten Blutstropfen zu verteidigen. Sie kamen mit ihren Panzern und ihren Jeeps, blieben stehen, fragten nicht lange und nahmen ihn gefangen. Sie hatten weder Erbarmen angesichts des weißen Tuches, das er geschwenkt hatte, noch mit seiner Jugend. Die amerikanischen Soldaten nahmen ihn einfach mit und brachten ihn in ein notdürftig errichtetes Gefangenenlager bei Bretzenheim.
Tagsüber, wenn die Sonne ein wenig durch den bewölkten Himmel schien, war das Lagerleben erträglich. Doch als der Herbst mit seinen Regenfällen das Leben der Gefangenen erschwerte, gruben sie tiefe Löcher in die Erde, um dort geschützt zu sein. Die nasse Erde wurde schwer. Es gab Höhlen, die in der Nacht unter der schweren Last einstürzten. Da war niemand, der die schreienden Gefangenen hören konnte. Erst bei Tag bemerkten sie, wer von ihren Kameraden bei lebendigem Leibe begraben worden war.
Als die Amis gingen kamen die Franzosen. Jetzt gab es auch keine Tabakrationen mehr für die Männer. Einige trockneten in ihren Höhlen Blätter und Gras, indem sie darauf schliefen. Mit Zeitungspapier wickelten sie den selbstgemachten Tabak ein und klebten das Papier mit viel Spucke fest, um so wenigstens eine Ahnung von einem Rauchgenuss zu bekommen. Es blieb bei der Ahnung und der Genuss der selbsthergestellten Zigarette hinterließ einen schalen Geschmack im Gaumen und oftmals auch ein übles Gefühl in der Magengegend. Bereits am ersten Tag im Lager dachte Hans an Flucht.
Die Flucht war einfacher, als er dachte. Es ging alles sehr schnell. Sein Plan war gründlich durchdacht. An Heilig Abend hatten sie im Lager von den Franzosen eine Extraration Wassersuppe mit einem Stück Brot bekommen. Das war alles.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag versteckte er sich unter einem Lastwagen, von dem er annehmen konnte, dass dieser bald aus dem Lager fahren würde. Mit seiner ganzen Kraft hielt er sich an einem Gestänge unter dem Lastwagen fest, als dieser losfuhr. Nun ging alles sehr schnell. Innerhalb von wenigen Minuten passierten sie unkontrolliert das Lagertor. Als der Wagen hielt, es war dunkel und er wusste nicht wo er gerade war, löste er seine Hände und die Beine von dem Metall und fiel in den Schnee. Der Lastwagen fuhr weiter. Hans blieb liegen. Er atmete schnell. Regungslos blieb er so ein paar Minuten liegen. Beobachtete die Sterne über sich, sah, wie sich langsam die Lichter des Lastwagens von ihm entfernten und schrie in die Nacht hinein. Er hatte es geschafft. Seine Flucht war gelungen. Frei, er war frei. Endlich frei. Niemand würde ihn nun mehr in das Gefangenenlager nach Bretzenheim zurückbringen können.
Nachdem er eine ganze Weile regungslos im Schnee liegen geblieben war, spürte er, wie die Kälte in ihm hochstieg. Das Aufstehen fiel ihm schwer. Die steifen Glieder und der Hunger machten ihm zu schaffen. Sein Heimatdorf war nur wenige Kilometer entfernt, doch er wusste, dass sie ihn dort zuerst suchen würden. Lange musste er überlegen, wohin er gehen könnte, um untertauchen zu können. Doch es fiel ihm niemand ein, dem er sein Schicksal anvertrauen konnte. Die Frage, wohin er nun gehen sollte, hatte er sich im Lager nie gestellt. Er wusste, wo er nicht hingehen konnte. Nach Hause zu seiner Mutter würde er sicher nicht gehen können, dort würde es auffallen, dass Hans wieder aus dem Krieg nach Hause gekommen war. Kurze Zeit spielte er mit dem Gedanken bei seinem Freund Helmut Unterschlupf zu finden. Doch er gab diesen Gedanken auf.
Immer wieder zog er seine Kreise durch die Dörfer um Bingen herum. Er ging nur Nachts, nahm Wege durch die Felder und schlief tagsüber in einem der Heuschober, die am Wegesrand standen.
Ab und zu stahl er sich bei einem Bauern ein Ei, dass er roh austrank. In einem Keller fand der auch Äpfel und andere Vorräte, die seinen Hunger stillten.
Es gelang ihm sogar in der dritten Nacht seiner Flucht in der Scheune seines Elternhauses in Dietersheim zu übernachten. Auf dem Hof hörte er früh am Morgen die Stimme seiner Mutter. Das war für ihn das Zeichen zum Aufbruch. Er schlich sich über den Hinterhof hinaus auf die Straße. Vorbei an der Kirche, um sich dann in den Feldern einen Unterschlupf zu suchen.
Am 31. Dezember 1945 war er bereits fünf Tage auf der Flucht. Fünf Tage, an denen er nicht wusste, wohin er gehen sollte. Er war auf der Höhe der Rochuskapelle angelangt, als er ein Knallen hörte. Sofort ließ er sich in den Schnee fallen. Adrenalin schoss ihm durch den Körper. Er transpirierte, lag schnaufend im Schnee und war ein Bündel aus Angst.
Wieder knallte es und wieder und wieder. Dann hörte er nur noch das Läuten der Glocken. Hans verstand jetzt. Der Krieg war zu Ende und er auf der Flucht.

 

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