Lonely Stranger

Das Wasser des Aquariums ist durch die Kälte der Nacht eingefroren. Der einsame Goldfisch darin hat gerade noch so viel Platz, dass er seine Flossen sanft bewegen kann. Benedikt geht in die Küche, um einen Kessel heißen Wassers aufzustellen. Er will mit dem kochenden Wasser das Eis zum Schmelzen bringen, damit der Goldfisch wieder schwimmen kann.
Dann ist da noch das Loch in der Küchentür. Onkel Franz hat es am Abend zuvor dort hineingetreten, um sich Eintritt zu verschaffen. Die hinter der Küchentür standen, seine Mutter, seine beiden Brüder und Benedikt, hatten Angst. Keiner sprach ein Wort, sie sahen sich nicht an, weil sie Angst davor hatten sich ihre Angst zu zeigen. Onkel Franz stolperte fluchend die Treppenstufen hinunter, nachdem er vor seiner eigenen Wut erschrocken war.
Sie standen noch lange so hinter der Küchentür mit dem Loch. Niemand bewegte sich. Nur leise atmeten sie, Benedikt schluchzte leise in sich hinein, er hielt die Katze im Arm, um sie zu trösten. Sie schnurrte. Seine Katze gab ihm ein Gefühl von Geborgenheit. Das war der Abend vor Heilig Abend, das Loch in der Küchentür und dann das Eis, am nächsten Morgen im Aquarium. Benedikt Grüns erste Erinnerung an ein Weihnachten in seiner Kindheit. Damals war er vier Jahr alt. Danach gab es für ihn kein Weihnachten mehr. Er nahm sich fest vor, niemals wieder dieses Fest feiern zu wollen, weil er nicht wollte das irgendeine Tür eingetreten wird oder die Fische erfrieren müssten, „Wenn das Weihnachten ist“, sagte er zu sich „soll für mich nie mehr Weihnachten sein!“

In den Straßen der kleinen Stadt ist ein geschäftiges Treiben. Menschen eilen durch die Straßen, um die letzten Geschenke einzukaufen.
Eric Clapton ist wieder in sein Leben zurückgekehrt und während die Eiskappen der Pole vor Wärme schmelzen, werden die Herzen der Menschen immer ... Da ist noch der Blues, der in jenen Menschen pocht, die nicht aufgegeben haben zu träumen. Dieser ungestillte Wunsch nach einem Miteinander. In einer Zeit, in der keiner mehr mit niemandem spricht und: Niemand mehr keinem zuhört. Es ist Advent. Grün schleppt sich durch diese seltsame Zeit. Die Zeit der Erwartung. Er hat das Gefühl für den Advent verloren. Da ist nicht mehr der Traum von innerer Harmonie, selbst der Duft von Zimtgebäck bringt ihn nicht in Weihnachtsstimmung.
Einen Tag vor Heilig Abend irrt auch er durch die Straßen dieser kleinen Stadt. Der Stadt, an der die Nahe in den Rhein fließt. Auch er macht noch die letzten Besorgungen für Weihnachten.
Seit vielen Jahren hat es zum ersten Mal wieder geschneit. An einer Straßenecke stehen ein paar russische Musiker, die Lieder aus ihrer Heimat spielen. Ihr Hut, der vor ihnen liegt, ist leer. Nur wenige Passanten beachten sie. Auch Grün nimmt keine Notiz von ihnen.
Ein Weihnachtsmarkt, der gar keiner ist, aber der so aussehen soll als wäre er einer, zieht sich durch die Straßen der Fußgängerzone. Hinter den Ständen erwartungsvolle Menschen, die auf Käufer warten. Handgezogene Kerzen, Weihnachtsgebäck, Holzspielzeug, Räuchermännchen, bleiben auf den Tischen liegen, einfach liegen.
In einem Tabakwarenladen kauft er sich eine kleine Holzschachtel mit kubanischen Panatellas. Zehn Stück zu 5 Euro 70. Draußen vor der Tür zündet er sich eine an und geht weiter. Grün hatte schon immer ein ambivalentes Verhältnis zu den Menschen, die hier wohnten. Umgekehrt, gab es auch Menschen in dieser Stadt, die zu ihm ebenso ein ambivalentes Verhältnis hatten. Schon früh wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei, um im gleichen Atemzug aus der katholischen Kirche auszutreten. In einer Stadt wie dieser, hatte jemand, der etwas werden wollte, katholisch zu sein. Wollte man aber wirklich erfolgreich sein, war es nützlich Mitglied – wenn auch nur passives – der CDU zu werden. Es war keine Frage der Intelligenz oder des guten Benehmens in dieser Stadt Anerkennung zu bekommen. Dieser Langeweile wollte er sich nicht aussetzen. So gaben sie ihm keine Arbeit. Sie sagten ihm: „Herr Grün, Sie bekommen hier keine Arbeit, Kommunisten haben in dieser Stadt nichts zu suchen!“ Aber Grün war bereit, diesen Preis zu zahlen. Langzeitarbeitslosigkeit war die Folge. Aber auch das überlebte er. Auf die Frage, weshalb er immer noch hier leben würde, antwortete er: „Ich werde erst gehen, wenn man dieser Stadt anmerkt, dass ich einmal hier gelebt habe!“

Die Schneeflocken werden immer dicker. Grün macht noch ein paar Züge an seiner Panatella und wirft dann den Stummel in einen Gulli. Die Straßen sind leicht bedeckt vom Schnee. Er scheint liegen zu bleiben. Der Traum eines jeden Kindes. Weihnachten in weiß.

Auch Grüns Traum damals, als der Goldfisch im Aquarium eingefroren war und er versuchte, ihn mit dem kochenden Wasser des Kessels zu retten.

Er legt noch ein paar Scheite Holz mehr in den Ofen, damit das Wasser schneller zu kochen beginnt. Seine Mutter und die beiden Brüder schlafen noch. Der Morgen am Heilig Abend. Sein Großvater spielt unten in seiner Küche mit einer Zither Weihnachtsmelodien. Bestimmt würde er mit geschlossenen Augen am Küchentisch sitzen und mit seinen Fingern sanft über die Saiten gleiten. Während er den Kessel auf die heiße Herdplatte stellt, streift ihm seine Katze um die Beine. Sie versucht ihn mit einem leisen Miauen um Futter anzubetteln. Aus dem Schrank holt er eine Tüte mit Trockenfutter und legt eine Handvoll davon auf ihren Teller. Aus dem Kühlschrank holt er noch die Milch und gießt sie in eine kleine Schale. Die Katze schnurrt vor Freude als er ihr die Schale mit der Milch auf den Boden stellt: „Heute ist Weihnachten, da sollst du auch eine Freude haben.“
Benedikt steigt auf einen Stuhl und schaut durch das Küchenfenster. Draußen fallen dicke Schneeflocken vom Himmel. „Schau mal, wir bekommen weiße Weihnachten“, sagt er zu seiner Katze, die jetzt in der Milchschale schleckt, aber das Schnurren noch nicht aufgegeben hat.
Damals vertraute er noch den Erwachsenen, später, als junger Mann auch noch. So lief er in jedes Messer, das sie vor ihm aufklappten. Sie wollten sich mit ihm messen, wollten ihm beweisen, dass sie stärker wären als er. Das gab ihnen ein Gefühl von Macht. Irgendwann verlor er das Vertrauen und verstand, wie sie ihn wollten. Er sollte einer von ihnen werden. Dann begann er, ihnen ihre Ohnmacht zu zeigen.

Jetzt geht da ein Mann durch die verschneiten Straßen, der nicht das Geringste von Weihnachten versteht. Damals, als er am Morgen des Heilig Abend seinen Goldfisch vorm Erfrieren retten wollte, lag draußen bereits eine dicke Schneedecke auf der Erde.
Benedikt trägt den Kessel mit dem kochenden Wasser mit beiden Händen in das Wohnzimmer. Die Katze schnurrt immer noch über der Milch. Langsam steigt er auf einen Stuhl, um das heiße Wasser besser in das Aquarium gießen zu können. In der Ecke steht bereits ein geschmückter Weihnachtsbaum mit Wachskerzen. Er riecht nach den Nadeln der Fichte. Opa hat jetzt die Zither durch seine Mundharmonika ausgetauscht. Auch dieses Instrument spielt er mit geschlossenen Augen. Stille Nacht, heilige Nacht.
Langsam lässt Benedikt heißes Wasser in das vereiste Becken fließen.

Der Schnee hat die Stadt in eine weiße Kulisse verwandelt. Die Russen spielen immer noch. Sie haben jetzt Regenschirme aufgespannt, damit ihre Instrumente nicht einschneien. Der Hut ist immer noch leer. Grün wirft einen Euro hinein. die Männer singen jetzt lauter und verbeugen sich vor ihm. An einer Straßenecke sitzt ein Obdachloser, auch er hat eine Mütze vor sich liegen, die leer ist. Er will an ihm vorbeigehen und summt leise ein Lied von Clapton vor sich hin, Lonely Stranger. Doch der Obdachlose ruft ihm hinterher: „Die Eiskappen der Pole schmelzen vor Wärme, aber die Herzen der Menschen werden immer kälter.“

 

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